München galt um 1900 als „Erste Deutsche Kunststadt“, die nicht zuletzt wegen ihrer liberalen Lebensart Künstler aus aller Welt anzog, Maler und Bildhauer ebenso wie Kunstgewerbler, Schriftsteller, Schauspieler, aber auch Architekten und Städtebauer.
„Brücken bauen“ lautet das Motto der Aktivitäten anlässlich des 850-jährigen Münchner Stadtjubiläums. Brücken sind nur selten Einbahnstraßen – und so holten sich Münchner Architekten, die in anderen Städten bauten oder die durch ihre Münchner Werke anderenorts vorbildhaft wirkten, auch so manche Anregungen aus eben solchen anderen Städten.
Große Architekten wie Leo von Klenze oder Friedrich von Gärtner bauten in Griechenland, Klenze sogar für den russischen Zaren, während Gärtner durch seine erfolgreiche Lehrtätigkeit großen künstlerischen Einfluss auf die mitteleuropäische Architektur bekam. Diese Fakten sind relativ bekannt, während die späteren Jahrzehnte der Architekturgeschichte mitsamt den Neo-Stilen und dem Jugendstil bis vor gar nicht allzu langer Zeit vehement abgelehnt oder zumindest stiefmütterlich behandelt worden sind.
Diese Lücken begann man erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu schließen. Grundlage für die vorliegenden Forschungen über die „Wechselbeziehungen der Münchner Architektur zu mitteleuropäischen Städten“ wurden deshalb vor allem die Forschungsarbeiten des Autors aus den siebziger Jahren zu seiner Dissertation über den Architekten Martin Dülfer bzw. zu dessen Theaterbau in Meran.
In diesem Zusammenhang war die umfangreiche Tätigkeit der Münchner Architekten in den Nachbarländern erstmals zu ahnen: Dülfers Bauleiter Wilhelm Kürschner wurde noch während seiner Meraner Tätigkeit nach Bozen als Stadtarchitekt abgeworben, wo er ganze Stadtviertel neu errichten sollte. Das Bozener Theater schuf der Münchner Theaterfachmann Max Littmann, das dortige Rathaus Karl Hocheder, Erbauer des Münchner Volksbades.
Die frappanten Ähnlichkeiten in Bezug auf die Fassadengliederung zwischen Dülfers Bernheimer-Fassade und dem Budapester New-York-Palais wirkten als Auslöser für weiteres Interesse.
Auch mehrere Budapester Schulhäuser schienen den Münchner Schulhausbauten sehr verwandt. Die Gewährung des Bayerischen Staatsstipendiums über das Zentralinstitut für Kunstgeschichte und ein Wissenschaftsstipendium der Stadt Wien ermöglichte schließlich eine intensivere Beschäftigung mit dieser Themenstellung.
Schwerpunkt war zunächst die Gebiete von Nord- und Südtirol, wo die Münchner Architekten der Gründerzeit in besonderem Maße ihre Anregungen geholt und umgekehrt auf die meist in München ausgebildeten Tiroler Architekten geschmacksbildend gewirkt hatten.
Die wichtige Rolle, die München im 19. Jahrhundert als ein Hauptzentrum der europäischen Architektur spielte, war in der jüngeren Vergangenheit weitgehend vergessen. Dabei wurden, von nationalen Grenzen nur wenig behindert, damals die künstlerischen Austauschmöglichkeiten intensiv genutzt. Eine gründliche Auswertung der Immatrikulationsverzeichnisse verschiedener Münchner Architekten-Ausbildungsstätten brachte überraschende Informationen: überproportional viele der Studenten stammten aus dem östlichen Mitteleuropa. Auffallend ist, dass zeitweise hier doppelt so viele Ungarn wie Österreicher Architektur studiert hatten.
Nach 1986 konnten die begonnenen Forschungsarbeiten im Rahmen eines weiteren Stipendiums, diesmal vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Wien, weitergeführt werden.
Auf verschiedenen Studienreisen wurde eine Überfülle an Materialien gesammelt, die bis dahin in der Regel nur den einheimischen Wissenschaftlern oder regionalen Heimatforschern bekannt waren, überregional aber kaum Beachtung fanden.
Aus zeitlichen und finanziellen Ursachen konnte bislang nur ein Bruchteil der bekannten oder empfohlenen Quellen ausgeschöpft, nicht alle Länder gleichwertig bearbeitet werden. Manches wird erst von späteren Generationen bearbeitet werden oder auch ganz unerforscht bleiben. Vollständigkeit kann bei der Komplexität des Themas nicht angestrebt werden, darüber hinaus zeigen aber die vorgestellten Beispiele die hohe Qualität der Münchner Architektur und ihre Stellung in der mitteleuropäischen Kulturlandschaft, die noch heute besonders in den östlichen Nachbarstaaten deutlich zu erkennen ist. Die vorliegende Arbeit erinnert bewusst an früher selbstverständliche kulturelle Gemeinsamkeiten, die aus politischen Gründen nach dem Ersten, mehr aber noch nach dem Zweiten Weltkrieg ignoriert worden und schließlich in Vergessenheit geraten sind.
Dieter Klein im Mai 2008